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Erlebtes

Das Leben ist wie ein Puzzle

Der Karton war riesig. Eingepackt in 1970-er Jahre buntes Geschenkpapier ragte er eine Hand breit über meinen kleinen Schreibtisch hinaus. Nun gehörte ich nicht zu denen, die ein Geschenk vor lauter Neugier ratz-fatz aufrissen. Ich mache das heute noch so, dass ich das Öffnen einer Geschenkpackung zelebriere und regelrecht genieße. Also löste ich in aller Ruhe den festgezogenen Knoten der Geschenkkordel auf, anschließend die transparenten Klebestreifen vorsichtig ab und schlug langsam das Geschenkpapier zurück.

Ich hätte mir damals schon – ich glaube, ich war so etwa 12 oder 13 Jahre alt – über dieses systematische, vorsichtige Vorgehen Gedanken machen sollen. Na ja, wer denkt schon in dieser jugendlichen Anfangspubertätsphase schon an seinen späteren Lebenslauf?

Als erstes erkannte ich die ominöse Zahl in mindestens 5 cm Größe: 2500 war auf den Karton aufgedruckt, auf Ober- und Unterseite und etwas kleiner auch an den vier Längsseiten. Und in wenigen Millisekunden war dann auch der Rest freigelegt. Unschwer erkannte ich die Umrisse eines großen Segelschiffes – und danach das ganze Ausmaß der Katastrophe: Gorch Fock auf hoher See bei schönstem Segelwetter! Ein fotografisches Abbild eines der bekannteste Segelschulschiffe – ein Großsegler der Deutschen Marine, der 1958 als Ersatz für die ursprüngliche Gorch Fock aus dem Jahr 1933 gebaut worden war – war samt See und Himmel in 2500 Teile zerlegt worden und sollte nun von einem Puzzle-Hochbegabten wieder zusammengesetzt werden. Anders ausgedrückt: ein Segelschiff auf blauer See vor blauem Himmel – Schwierigkeitsgrad 10 auf der nach oben offenen Puzzle-Skala!

Ich glaube, es war die Schwester meiner Mutter, Tante Inge, die mir diese Höchstleistung zutraute. In dieser Zeit bestand die Sonntagvormittagsbeschäftigung von Jugendlichen meines Alters nicht im Bedienen von Spielkonsolen, Abrufen von über 1000 Fernsehsendern oder Streamen von Serienfolgen, Internetsurfen oder Downloaden von App’s, sondern oft im Training des logischen Denkens und der Feinmotorik durch wiederholtes Arbeiten mit einem Märklin-Metallbaukasten, einer Lego-Eisenbahn – oder eben mit einem Puzzle. So wurde damals wahrscheinlich schon – was noch keiner ahnte – u. a. die Grundlage für meinen beruflichen Werdegang geschaffen.

Preisfrage: wie beginnt man ein Puzzle, bei dem gefühlte 99,9 % der Einzelteile eine blaue Grundfarbe aufweisen und so ganz eindeutig voneinander unterschieden werden können? Na klar, mit dem Raussuchen der Ecken und Ränder! Also mit dem, was sich wenigsten in der Form von den anderen unterscheidet. Mit etwas Fleiß und ausgefeilter Probiertechnik konnte ich so ca. 8-10 % schon mal wegarbeiten. Dieser „Rahmen“ wurde auf einem festen Karton ausgelegt, der dann bei Unterbrechung der Puzzlearbeiten unter einen Schrank geschoben oder auf einem ebenen Möbelstück abgelegt werden konnte.

Nun folgte Schritt 2 der ausgefeilten Puzzlestrategie. Wer kann sich noch daran erinnern? Klar, jetzt ging es mit dem Raussuchen aller nicht-blauen Einzelteile weiter. Das musste ja im Umkehrschluss das Schulschiff sein. Anschließend folgten die Schritte 3-5: Auffinden der Puzzleteile mit der Horizontlinie, mit den Schaumkronen auf den Meereswellen und mit den Schäfchenwolken am Himmel. Im Nachhinein würde ich mal schätzen, dass damit so etwas mehr als die Hälfte des Puzzles gelegt war. Und das nur an drei Sonntagen. Blieben immer noch ca. 1200 Einzelteile, die sich besonders für dunkle Herbst- und Wintersonntage eigneten.

Weil man jedoch weitaus mehr Zeit benötigte und die eh bei mir spärlich vorhandene Geduld schnell aufgebraucht war, war der „Legezeitraum“ häufig deutlich länger. Aber immer, wenn ich den Deckel der Puzzleschachtel neben meinen halbfertigen Bausatz legte, konnte ich ganz leicht das Motiv erkennen – und zwar ganz! Details waren gar nicht notwendig, um den Überblick zu haben. Hätte ich damals schon gewusst, dass sich mir auf diese Weise einige grundlegende Aspekte der Sachverständigenarbeit offenbarten:

  1. 80 % eines Werkes erstellt man meistens in ca. 20 % der Zeit, egal ob Puzzle oder Gutachten. Und die restlichen 20 % benötigen dann die restlichen ca. 80 % an Zeit (Pareto-Prinzip).
  2. In vielen Fällen reicht es aus, wenn die wichtigsten Teile eines Puzzles ausgelegt sind, um das Wesentliche zu erkennen (wir sehen nicht die Einzelteile, sondern das Puzzlebild als Ganzes).
  3. Man muss nicht jedes Detail kennen, um sich einen guten Überblick zu verschaffen (Mut zur Lücke).
  4. Wenn es keine Fakten und/oder Angaben gibt, helfen nur noch (plausible) Annahmen.

Nachfolgend ist ein kleines Beispiel illustriert, ein Puzzle mit nur 72 Teilen, aber es hat es in sich: keine Naturdarstellung, sondern eine bunte Grafik; Puzzleteile in unterschiedlichen Größen und Formaten.

Auspacken des Puzzles – ein ungeordneter Haufen
Grobe Vorsortierung – Teile mit Rand (links) / ohne Rand
Beginn mit den Ecken – und weitere Annäherung
Der Rand ist fertig – jetzt kann es innen weitergehen. Aber wie? Erst mal eine kurze Pause machen…
Konzentration auf ausgeprägte Eigenschaften – Strukturen, Farben, Formen usw.
Verknüpfung einzelner Puzzlebereiche – ein erstes, grobes Bild entsteht
Gut vier Fünftel des Puzzles sind ausgelegt – plausible Annahmen zum Motiv sind zulässig
Es fehlen immer noch 10 %, doch trotz der Lücken ist das Puzzle als Ganzes gut erkennbar (vgl. mit Vorlage)
Das Puzzle ist fertig – übrigens eine wunderbare Entspannungsübung nach einem ganz normalen Sachverständigentag!
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