Was ich einmal werden möchte: Astronaut
1941 wurde der Schuljahresbeginn im ganzen Deutschen Reich auf September festgelegt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dies in allen übrigen Ländern der westlichen Besatzungszonen außer in Bayern (Amerikanische Besatzungszone) jedoch wieder rückgängig gemacht und vom Herbst auf den Frühling verlegt. Mit dem Hamburger Abkommen 1964 wurde dann beschlossen, das Schuljahr wie in Bayern und den europäischen Nachbarländern am 1. August beginnen zu lassen und die Schulpflicht auf neun Jahre zu verlängern. Zur Umstellung wurden in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Saarland, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zwei Kurzschuljahre durchgeführt, vom 1. April bis 30. November 1966 und vom 1. Dezember 1966 bis 31. Juli 1967. Am 1. Dezember 1966 wurden neue Schulanfänger aufgenommen, die anderen Schüler wurden wie am Ende jedes normalen Schuljahres in die nächste Klasse versetzt.
So haben die Jahrgänge 1959 und 1960 die so genannten Kurzschuljahre miterlebt – und ich eben auch. Zum 1. Dezember 1966 wurde ich eingeschult und hatte im Sommer 1967 bereits die 1. Klasse vollendet. Wir schrieben damals noch auf Schiefertafeln, mit Schulkreide (die Hartversion der heutigen touchscreens) – und das Kratzen der Kreide erzeugt heute noch bei mir steil aufstehende Nackenhaare. Damals wurde sehr viel gemalt und die meisten Hausaufgaben sollten als Bild erledigt werden. Da meine Malkünste damals wie heute nicht sonderlich ausgeprägt waren, unterstützte mich meine Mutter so gut sie konnte. So entstand zum Beispiel ein Bild zu einem Märchen – ich glaube es war Schneewittchen – gemalt von meiner Mutter, für das ich leider keine 1 oder 2 erhielt. Es lag wohl daran, dass das Mädchen einen ausgeprägten Busen, Locken und einen Petticoat trug. Details, die einen fast Sechsjährigen damals noch nicht unbedingt interessierten.
Es war 1967, als meine Familie und ich von Ludwigshafen am Rhein (wir wohnten damals direkt neben dem Herstellwerk von Grünzweig + Hartmann, das fast in Stadtmitte war) auf’s Land in die Nähe von Bad Dürkheim umzogen. Von der Stadt ins Dorf, für einen Jungen die Freiheit schlechthin. In der Dorfvolksschule gab es zwei Klassenräume, einer für die Klassen 1-4, einer für die Klassen 5-8. Der Unterricht fand für alle Klassen „simultan“ statt und meine Lehrerin Frau Lang erkannte wohl damals schon meine Potenziale. Nur mit Deutsch haperte es, was wohl naheliegend ist, wenn man aus einer Urpfälzisch sprechenden Familie stammt. Hausaufgaben wurden in einem Deutschheft festgehalten und benotet wurde nach Ausdruck, Rechtschreibung, Inhalt und Schrift (!). Ja, Schönschreiben war damals noch wichtig – und wenn das mütterliche Soll nicht erfüllt war, wurden rigoros Seiten rausgerissen und ich musste alles neu schreiben. Ich erinnere mich an ein Schuljahr mit mehreren, extrem dünnen Deutschheften. Es war aber nicht die 4. Klasse.
Das 4. Schuljahr begann wenige Wochen nach der ersten Mondlandung im Juli 1969. Ein wirklich weltbewegendes Ereignis, an dem ich glücklicher Weise teilhaben durfte. Meine Eltern hatten einen Schwarzweißfernseher, ungefähr vom Volumen her so groß wie zwei aufeinander gestellte Bierkästen. Und auch so schwer (voll natürlich). Die heutige Wisch & App Generation kann sich wahrscheinlich kaum vorstellen, wie stolz man war, an diesem Gerät zwischen zwei Fernsehprogrammen wählen zu können. Das erste und das zweite deutsche Fernsehen und in Rheinland-Pfalz das 3. Fernsehprogramm Südwest 3, das Zug um Zug zum Vollprogramm ausgebaut wurde (ab 1971 gab es tägliche Sendungen). Die große weite Welt in deutschen Nachkriegswohnzimmern. 24 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges landeten Neil Armstrong und Buzz Aldrin am 21. Juli 1969 als erste Menschen auf dem Mond. Und ich kleiner Knirps durfte live dabei sein.
Mich hatte das damals wahnsinnig fasziniert: ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit. Und als schließlich im 4. Schuljahr die Deutsch-Hausaufgabe „Was ich einmal werden möchte“ gestellt wurde, war das Ergebnis die erste und einzige Voll-eins in meiner Volksschulzeit. Warum das so war, ist mir erst heute klar geworden, nachdem ich einige Jahrzehnte älter bin:
1.) Wenn Dich etwas fasziniert, dann fehlen Dir keine Worte, dann fällt es Dir leicht Dich auszudrücken.
2.) Als Astronaut bist Du ganz schön auf Dich allein gestellt.
3.) Du musst Dich manchmal lösen von den irdischen Dingen, die Welt global betrachten, mit gebührendem Abstand, um einen Überblick zu bekommen.
4.) Man hängt nur an einem dünnen Versorgungskabel, um der Arbeit nachzugehen.
5.) Neugier, Optimismus, Vertrauen, Mut und Entschlossenheit braucht jeder Astronaut!
Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich irgendwann einmal astronautenähnlich arbeiten würde, dann hätte ich ihn oder sie schallend ausgelacht. Aber was tut ein Sachverständiger anderes als ein Astronaut? Allzu oft erschließt er sich fremde Welten. Aber damals waren mir diese Zusammenhänge noch nicht ganz klar.
Eigentlich war das Schulfach Deutsch für mich das unangenehmste Hauptfach. Insbesondere in den höheren Schulklassen des Gymnasiums. Da mussten wir Kafka lesen, Dürrenmatt und die Klassiker. Anette von Droste-Hülshoff nicht zu vergessen. Jaja, die gelben Reklam-Heftchen … Doch nicht genug: dann mussten wir dazu auch noch Inhaltsangaben, Interpretationen, Essays und andere schriftstellerische Kunstwerke verfassen. Als es in die Oberstufe ging, war Deutsch für mich verpflichtender Grundkurs – bei Mathematik, Physik und Erdkunde als Leistungskurs. Nix war’s mit abwählen. Doch wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich einmal meinen Lebensunterhalt mit Deutschtexten verdienen würde – den oder die hätte ich wieder schallend ausgelacht.
Die Leistungskurse deuteten eher auf die Astronautenambitionen hin, aber Deutsch! Und jetzt versuche ich mich schon wieder darin und haben diesen Blog begonnen, der kein Fach-Blog sein soll – über das was ich bisher als Sachverständiger erlebt habe. Unglaublich. Das kann ja heiter werden.