Wer erfolgreich sein will, muss seine Ziele exakt definieren. Das habe ich bei dem Vortrag eines Motivationstrainers gelernt. Und das möchte ich jetzt einfach mal aktiv in die Tat umsetzen, so schwer kann das ja nicht sein: Mein heutiges, erklärtes Ziel ist es, endlich das überfällige Gutachten für das Landgericht München zu diktieren!
Meine Zieldefinition wird durch die Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 1.000 Euro bei Nichteinhaltung der vom Gericht gesetzten Abgabefrist maßgeblich unterstützt. Und diese endet morgen um 12.00 Uhr. Spätestens dann muss der Eingang des Gutachtens bei Gericht bestätigt sein.
Also habe ich mir alles vorbereitet: die Gerichtsakten, Band I-III, Höhe über alles ca. 19,5 cm, Fachliteratur, Normen und Richtlinien, eine große Tasse Kaffee. Keine elektronische Akte, mit mehr als 200 MB Dateigröße, einfach nur viel Papier.
Während ich so den Aktenberg durcharbeite – man nennt das in der Fachsprache Akteneinsicht, wohl weil man danach einsichtiger ist – und mir einige Fakten diktieren möchte, stelle ich fest, dass mir ja noch das Diktiergerät fehlt. In diesem Moment klingelt es an der Bürotür. Es ist die Post – ein Paket und wie immer viele Briefumschläge. Auch ein paar so typische recyclingbraune sind dabei – Gerichtspost eben.
Also erst mal die Post durchsehen, es könnte ja etwas Wichtiges dabei sein. Ich picke mir die Rechnungen und die Gerichtsschreiben aus der Post und werfe die Reklame in den Papierkorb. Ich versuche es zumindest, aber es geht nicht, weil er randvoll ist.
Also lege ich die Rechnungen und die Gerichtspost in die Ablagebox für Posteingang, um zunächst – bevor ich es vergesse – den Papierkorb zu leeren. Als ich den Papierkorb gerade in der Hand genommen habe um ihn rauszutragen, klingelt das Festnetztelefon. Ich stelle den Papierkorb wieder hin, renne zum Telefon und nehme den Hörer ab.
Ein Kollege ist am Apparat und fragt: „Hallo mein Freund, was meinst Du denn dazu?“ „Zu was?“ frage ich zurück. Und denke: Seit wann ist sind wir eigentlich befreundet?
„Na zu der Datei, die ich vor einer Viertelstunde in die Dropbox gestellt habe. Der neueste Stand zum Seminar ‚Dämmen mit Köpfchen’. Du hast doch die Benachrichtigungsemail bekommen, oder?!“ Der Kollege ist doch etwas ungehalten, dass ich so langsam arbeite.
„Sorry,“ versuche ich ihm zu erklären, „ich muss heute ein wichtiges Gutachten diktieren und habe vor einer Stunde das letzte Mal meine Mails gecheckt. Man muss auch mal ohne Internet auskommen, wenn man sich konzentrieren muss. Aber ich schau’ natürlich schnell mal rein.“
Das Mobilteil des Festnetztelefons zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, renne ich zum separaten Internetrechner, der sich im Standby befindet. Schnell hochgefahren, Browser hochgeladen, Webmailer aufgerufen (meine Arbeit ist „aussichtslos“ – ohne Outlook!), die Mail erscheint gerade auf dem Bildschirm – da klingelt erneut das Festnetztelefon. Gott sei Dank schaltet sich automatisch der Anrufbeantworter ein, denke ich noch und höre mit dem anderen Ohr, wie gerade Frau Junge von der Geschäftsstelle der 2. Zivilkammer … – da geht die Klingelmelodie des Mobiltelefons los. „Moment“ sage ich meinem Kollegen am Festnetz, „ich geh’ nur mal schnell ran.“
Herr D. ist am Apparat, die Stimme sehr nervös. Auf seinen Anruf habe ich seit Tagen gewartet. Die Vorbereitung eines Forschungsprojektantrages ist in der Endphase – immerhin geht es für mein Ingenieurbüro um ein Budget von fast 40.000 Euro. Sofort nehme ich mobiltelefontechnisch den Gesprächsfaden auf, denn es gibt noch einige wichtige Projektdetails zu besprechen, um den Antrag so wasserdicht zu formulieren, dass wir auch die Zusage erhalten. Weshalb das Gespräch mit Herrn D. fast eine halbe Stunde dauert; Herr D. wird mich auf jeden Fall morgen über den Projektstand informieren.
Als ich das Mobiltelefon auf dem Schreibtisch ablege, fällt mein Blick auf einige wichtige Rechnungen, die eigentlich heute noch überwiesen werden müssen. Heutzutage geht das alles nur noch online – aber der Internetbrowser zeigt immer noch die Mail meines Kollegen … Oh je, der Kollege wird bestimmt sauer gewesen sein und aufgelegt haben – und: wo habe ich eigentlich das Festnetztelefon in der Eile abgelegt? schießt es mir durch den Kopf. Wenn ich das nur wüsste – am besten rufe ich mich mal mit dem Handy an, es muss doch irgendwo auf dem Schreibtisch liegen? Ja, da ist es ja, neben meiner halbvollen Tasse Kaffee. Ah, so ein Schluck nach dem ganzen Stress tut gut, aber der Kaffee ist nur noch lauwarm.
Lauwarmer Kaffee ist nicht wirklich lecker, also erst mal in die Mikrowelle stellen und kurz wieder erwärmen. Und während ich mit der Tasse Kaffee in die Büroküche gehe, sehe ich, dass die Blumen in der Bodenvase neben dem Empfangstresen dringend Wasser benötigen. Schließlich war ich wieder einige Wochen zum Auslandsaufenthalt in Griechenland (die Kollegen nennen das „auf Urlaub in Hellas“) und meine Bürohilfe war in der Zeit krank.
Ich stelle den Kaffee auf dem Empfangstresen ab, wo ich per Zufall meine Lesebrille finde (die ich seit gestern vermisse). Am besten gebe ich erst den Blumen Wasser, bevor ich meine Brille in mein Büro bringe. Ich lege die Brille zurück auf den Empfangstresen, fülle eine kleine Blumengießkanne mit Wasser – da sehe ich das Diktiergerät liegen. Irgendjemand hat es in das Fachzeitschriftenregal gelegt!
Ich denke: Wenn ich nachher diktieren will, werde ich das Diktiergerät wieder überall suchen und niemand weiß noch, dass es hier im Regal liegt. Also werde ich es gleich auf den Schreibtisch legen. Aber nun erstmal den Blumen Wasser geben. Ich beginne die Blumen zu gießen, stoße dabei aber an die Tür und verschütte Wasser auf den Boden. Ich lege das Diktiergerät zurück in das Regal, hole einen Lappen und wische die Pfütze auf, ehe ich nasse Füße bekomme.
Dann gehe ich zurück zum Büroeingang und versuche vergeblich mich zu erinnern, womit ich nun eigentlich beschäftigt war. At the end of the day stelle ich schließlich fest:
- Das Gutachten ist nicht diktiert.
- Es steht kalter Kaffee auf dem Empfangstresen.
- Die Blumen haben zu wenig Wasser bekommen.
- Der Aufenthaltsort des nicht geleerten Papierkorbs ist unbekannt.
- Die wichtigen Rechnungen sind nicht gebucht.
- Der Anrufbeantworter blinkt und zeigt 7 neue Nachrichten an.
- Mein Internetbrowser ist abgestürzt, ich kann keine Emails hochladen.
- Das Festnetztelefon meines Kollegen ist nach dem 2. Klingelton immer besetzt
- Ich weiß nicht, wo meine Lesebrille ist.
- Und wenn’s ganz blöd läuft, hat mich der Tag schlappe 1.000 Euro gekostet.
Während ich feststellen muss, dass ich heute nichts getan bekommen habe (man könnte auch von einem erfolglosen Tag sprechen – Ziel nicht erreicht), kann ich es dennoch nicht begreifen, denn ich war den lieben langen Tag stark beschäftigt und bin nun hundemüde! Ich hoffe, dass mir ein Puzzle eine Entspannungshilfe sein kann.
So ein Sachverständigenleben ist manchmal wirklich grauenhaft. Ich habe ein seriöses Problem, und ich muss irgendwo Hilfe suchen. Am besten mal das Internet nach entsprechenden Foren durchsuchen. Aber zunächst muss ich meine Mailbox prüfen. Und wahrscheinlich wieder mal eine Nachtschicht einlegen. Leider wird Nachtarbeit von den Gerichten nach JVEG nicht separat honoriert…